TeamNL schaatst - Ireen Wüst, Renate Groenewold, Jorien Voorhuis
TeamNL schaatst – Ireen Wüst, Renate Groenewold, Jorien Voorhuis – CC BY 2.0 2009 WSD Speed Skating Championships – 29.jpg by adrian8_8 – reshaped

Wintersport auf Meereshöhe – mit alpinen Nationen auf Augenhöhe

Oder: wie die Niederlande endlich zur Wintersportnation wurden

Wir in diesem Jahr (2018) die Olympischen Winterspiele in Pyeong Chang verfolgte, der kam um eine Meldung nicht herum: Medaille für die Niederlande. Das hat sich in Sotchi 2014 schon abgezeichnet, doch scheint Team-NL den Edelmatellrekord 2018 nochmals übertreffen zu können. Um das zu verstehen, hilft ein Blick in ein flaches Land zwischen Deichen und Kanälen, rund 8500 Kilometer weiter westlich.

Ein Kanal auf dem platten Land …

Ein früher Morgen im Februar. Plattes Land so weit das Auge reicht, eine Wiese links, eine Wiese rechts. Das zarte Hellgrün der mit gefrorenem Raureif bedeckten Graslandschaft steht im aufsteigendem Nebel, der dem orangefarbenen Sonnenball entgegen steigt. Einige tapfere Schafe grasen Tiefkühlkost. Der Kanal ist gefroren. Eiskristalle funkeln, glitzern und streuen das Sonnenlicht in grellen Funken in die Landschaft.

Stille.

Von fern her kommen langgezogene Schleifgeräusche: schrrrrrrrrr, schrrrrrr, schrrrrr, in gleichmäßigem Takt. Eine schmale doch kraftvolle Gestalt fliegt in wiegendem Gleitschritt über den Kanal. Ein Arm pendelt im Takt der ausholenden Beinzüge, der andere liegt fest an die Seite und an den Rücken gepresst. Der Anzug zeichnet die Körperkonturen nach, enge Mütze, aerodynamische Sportbrille. Wie Rauchfahnen strömt Atem aus dem Körper. Das Schleifen wird lauter, schleift sich heran: schrrrri schrrrrrri schrrrri – schleift sich wieder fort: schrrrrru schrrrrrru schrrrrrru. Die sportliche Gestalt und das Fahrgeräusch verschwinden in Richtung Horizont, entlang des sich in die Unendlichkeit des platten Landes verjüngenden Kanals, eine gerade Linie von da nach dort.

Im Schlittschuhmuseum Hindelopen
Schlittern traditionell und auf Natureis: im Schlittschuhmuseum Hindelopen

Wir sind im Norden der Niederlande, in Friesland oder in der Provinz Groningen. Vielleicht auch im Westen, in den Polderlandschaften Nord-Hollands. Hier ist Eislauf Kultur und Nationalsport zu gleich. Das Fest: Eislauf auf Natureis sobald die Temperatur es zulässt. Ein ganzes Land steht Kopf: wenn Elfstedentocht ist. Das war zuletzt 1997 der Fall.

Eine Eishalle, groß wie ein Fußballstadion

Szenenwechsel. Scheinwerferlicht.

Heerenveen, Provinz Friesland. Groß wie ein Fußballstadion ist das Eisstadion Thialf. Dicke gelbe Rohre unter der Decke. Auf dem 400 Meter langen Rund drehen Ireen und Sven ihre Kreise, Trainer rufen Zeiten rein, machen sich Notizen. An besonderen Tagen fasst die Halle 12.500 Zuschauer. Besondere Tage sind Weltmeisterschaften oder Europameisterschaften, wie sie beinahe im Jahresrhythmus in Heerenveen stattfinden. Das Thialf ist die bedeutendste Eishalle in den Niederlanden und Trainingshalle für das Team-NL der Eischnellläuferinnen und Eisschnellläufer. Der Name Thialf ist friesisch und bedeutet Schiff. Es ist vielleicht das Herz der Eislaufwelt, zumindest für den Teil der Eislaufwelt, der um hundertstel Sekunden kämpft. Ireen und Sven trainieren für Olympia 2018 und werden dort äußerst erfolgreich abschneiden. Ireen Wüst wusste seit 1997, seit sie als Zwölfjährige ihren Vater zur bislang letzten Elfstedentocht begleiten konnte, dass Eislauf ihre Leidenschaft würde. Das hat sie während vier Olympischen Spielen eindrucksvoll beweisen.

Sven Kramer ist der local hero, er wuchs nur wenige Kilometer vom Thialf in Oudeschoot auf. Auch er wurde familiär mit dem Eisschnelllauf in Kontakt gebracht: Vater Yep Kramer war Olympiateilnehmer 1980 und 1984.

Ein zukünftiger König auf Kufen: Prins Willem Alexander bei der Elfstedentocht, Ausstellung Eislaufmuseum Hindelopen
Ein zukünftiger König auf Kufen: Prins Willem Alexander bei der Elfstedentocht. Schlittschuhmuseum Hindelopen

Das Geheimnis des Erfolgs …

Man mag erstaunt sein, mit welcher Übermacht die Kufenflitzerinnen und -flitzer vom TeamNL das große eisige Rund beherrschen. Doch wer einerseits das unbändige Verlangen und das romantische Ideal des Natureislaufens kennen lernt, der versteht es. Hier ist die Saat gesät, die sich in Titeln und Medaillen äußert.

In diesem Winter durfte ich Friesland und das erste Friesische Eislaufmuseum in Hindelopen besuchen. Dort wurde neben der Geschichte des Eislaufens in den Niederlanden auch das großen Spektakel der Elfstedentocht dokumentiert. Das größte Eislaufspektakel der Welt, ein 200 Kilometer Marathon durch die elf Städte Frieslands. Die Gewinner waren Helden. Doch nicht allein die: wer ins Ziel kommt ist ebenfalls eine Heldin oder ein Held in dieser eislaufverrückten Region. Selbst der amtierende König Willem Alexander nahm inkognito, unter dem Namen W. A. van Buren, Teil und erreichte 1986 das Ziel. Respekt Majestät!

Ein Drama nur, dass es in den zurückliegenden Jahren so selten die nötigen Witterungsbedingungen für das Event der Events im Eisschnelllauf gab.

Plötzliche Olympiaerfolge

Aber zurück zu Olympischen Höhen: Die Niederlande stehen in der Ehrenliste der Olympischen Medaillen bei Winterspielen auf einem, für ein Land, in dem es selten schneit, guten zehnten Platz.  Zwischen 1952 und 2010 war das in etwa auch das Abschneiden der Eissprinter und -innen des Teams Oranje. Bis es 2014 mit 8 Goldmedaillen und 24 Podiumsplätzen einen deutlichen Sprung gab: der fünfte Platz. Und dieser Rekord konnte im Jahr 2018 nicht überboten werden, es wurden ebenfalls 8 goldene Medaillen, insgesamt 20. Dennoch eine außerordentliche Leistung, in der Nationenwertung bedeutet das den fünften Rang für die Niederlande.

Kein Wunder: fast alle* olympischen Medaillen bei Winterspielen gewannen niederländische Athletinnen und Athleten auf Schlittschuhen. Und nicht etwa beim Eishockey oder beim Eiskunstlauf, sondern im Eisschnelllauf und der Kurzbahndisziplin Shortrack. Wer schon einmal in Winterberg war, der weiß, dass unsere westliche Nachbar auch gerne Abfahrtski und Snowboard fahren. Doch reichte es hier bisher nur ein Mal zur Olympischen Ehre, 2010 auf dem Snowboard.

Doch der Schlittschuhsport reichte dem TeamNL, um erfolgreicher bei Winterspielen zu werden, als die alpinen Nationen Frankreich und Italien. 2014 sogar erfolgreicher als Deutschland und die Schweiz.  Die ersten Tage der Spiele 2018 waren, was die Medaillenränge angeht, ein Kopf-an-Kopf-Rennen der Niederlande mit Deutschland.

Das liegt vor allem daran, dass es verglichen mit anderen Wintersportarten so viele Wettkämpfe im Eisschnelllauf gibt. Mit 22 Wettbewerben inklusive dem Shorttrack, den Kurzbahnläufen,  sind es deutlich mehr als im alpinen Ski: 11, Skilanglauf: 12, Snowboard: 10, Biathlon: 11. Geschweige denn von den Bobfahrerinnen und Bobfahrern: 3, und dem Rodeln: 4. Für eine derart spezialisierte Wintersportnation ist die schnelle Kufe also die beste Sparte, um durch viele Medaillen international aufzufallen. Auch für Einzelathletinnen und -athleten: So gehört Ireen Wüst seit diesen Spielen zu den zehn erfolgreichsten Winterolympioniken, Sven Kramer zu den besten 20.

Wie wird ein Land eine Eisschnelllaufnation? Die müssen zur Arbeit schaatsen!

Die amerikanische Zeitung folgerte: diese Menschen müssen im Winter wohl täglich mit den Schlittschuhen zur Arbeit pendeln! Und da man von amerikanischen Verhältnissen ausgeht, müsse die Strecke täglich sicher 15 km hin und 15 km zurück betragen! So wurde Äthiopien zur Marathon-Nation: alle Kinder rennen täglich 20 Kilometer zur Schule und auch wieder zurück. So klappt das in Holland wohl mit dem Eislauf auch!

Panoramaaufnahme in der Ireen-Wüst-Eishalle in Tilburg
Ireen-Wüst-Eisbahn in Tilburg – Klick groß

Aber: Weshalb sind in einem Land, das so für Kufenflitzen schwärmt, Eiskunstlauf oder das Eishockey in den Niederlanden (Polderblick-Podcast Nr. 9 mit den Tilburg Trappers)  Randsportarten? Zumindest bleibt im internationalen Vergleich der Erfolg aus. Ich vermute, das hat auch geografische Gründe. In der regionalen DNA ist das Eislaufen auf Kanälen verankert. Diese sind eher lang und schmal, bieten sich also nahezu für eine schnelle Bewältigung an. Es gibt weniger zugefrorene Seen, die Platz für Bodychecks, Puckspiele und Tore oder auch für Pirouetten und elegante Kreisläufe böten. Zudem gelten die Niederländerinnen und Niederländer auch das längste Volk der Welt. Ein körperlicher Vorsprung, der sich im Eisschnelllauf eher auswirken könnte, als in den anderen Sportarten auf dem Eis.

Infrastuktur: 13 Olympiabahnen in den Niederlanden

Ganz sicher spielt auch die Infrastruktur eine entscheidende Rolle: es gibt in den Niederlanden 13 Eishallen mit einer Streckenlänge von 400 Metern, der Olympianorm. In Deutschland gibt es derer lediglich drei, in den USA zwei, in China fünf. Die Frage nach Huhn oder Ei ist hier zulässig: gibt es in den Niederlanden so viele Eishallen, weil die Begeisterung so groß ist oder ist die Begeisterung so groß, seit es die Hallen gibt? Wer weiß das schon so genau.

All diese Gründe zeigen plausibel: Holland ist Eisschnelllauf-Nation Nr. 1. Vielleicht überrascht uns Team-NL aber 2022 in Peking – ja, die Winterolympiade reist in vier Jahren nach Peking. Dort könnte ja das Eishockeyteam oder ein Eiskunstlaufpaar groß auftrumpfen. Den innovativen Niederlanden ist schließlich vieles zuzutrauen. Oder sogar eine weitere Medaille auf dem Snowboard, dann steht ganz Winterberg Kopf!

* Es gab tatsächlich bisher eine Medaille außerhalb der Eisbahn: Nicolien Sauerbreij gewann 2010 in Vancouver Gold im Riesenslalom auf dem Snowboard. 1960 und 1964 gewann zudem Sjoukje Dijkstra im Eiskunstlauf

Weitere Links

Interview: Geluksmomenten von Ireen Wüst

Interview: Ireen Wüst im NOS Olympiastudio 2018

The Olympics on the Record: Why are the Dutch a Speed Skating Dominant Force (EN, 2017)