Wattenmeer
Weiter Blick aufs Watt

„Nur unter Protest“, erwiderte Herr Wolkenstein meinen Vorschlag, einmal nicht an unseren Strand zu gehen. Ein Urlaubstag auf der Insel ohne unseren Lieblingsstrand. Ich wollte ihm die andere Seite der Insel zeigen, den hohen Deich, die Polder und vor allem das Watt. Natürlich verstand ich seinen Einwand. Herr Wolkenstein liebte den Strand, das Bauen mit Sand, Burgen und Kanäle, spielen mit anderen Kindern.

Doch stand mir nach einigen Urlaubstagen der Sinn nach Abwechslung. Zudem war ich auch sicher, dass Herr Wolkenstein sich für die Einzigartigkeit des Wattenmeeres begeistern würde. Es gab dort so viel zu entdecken.

„Aber ich nehme meine Schaufel und meinen Eimer mit!“, darauf bestand er, als er schließlich einwilligte. „Und mein Boot!“, fügte er noch hinzu.

„Klar, darfst Du. Aber einen Strand, so wie hier, gibt es dort nicht“, sagte ich, dachte jedoch: „Mal sehen, ob Du es da wirklich brauchst …“

Polder, Deich und Schafe …

An der anderen Seite der Insel angekommen, sahen wir zunächst nicht viel. Flaches Land auf der einen Seite der Straße, ein hoher Deich auf der anderen. Der Deich war mit Gras bewachsen, Schafe grasten dort in Seelenruhe und hielten das Gras auf dem Deich ständig kurz. Der Radweg, der auf den Deichkamm hinauf führte, war mit einem Gatter abgetrennt, zusätzlich war ein Trittgittern in den Weg eingelassen, über den die Schafe mit ihren Hufen nicht laufen konnten. Wir kürzten ab und gingen nicht den schräg verlaufenden Radweg, sondern die Treppe hinauf. Sie führte uns direkt auf den Deich.

Herr Wolkenstein war bestens ausgerüstet, Eimer und Schaufel in der Hand. Sein kleines Fährschiff hatte ich, für alle Fälle im Rucksack. Sein suchender Blick galt aber eher einem Strandpavillon als dem Meer. Denn sein Eis und seine Krokette , die zu einem Strandtag gehörten, waren für Herrn Wolkenstein wichtig. Es war keines der beliebtes Strandcafé zu sehen, der die Stimmung von Herrn Wolkenstein sicherlich erhellt hätte.

Schafe am Deich
Auf dieser Seite des Deichs grasen Schafe, auf der anderen Seite liegt das Watt

… und dahinter das Wattenmeer

Oben angekommen standen wir erst einmal eine Weile auf dem Deichkamm.  Für mich war die Weite des Wattenmeeres stets ein erhabener Anblick. Auch Herr Wolkenstein stand andächtig und schaute aufs Watt.

„Meinen Eimer und meine Schaufel hätte ich ja gar nicht gebraucht!“, sagte Herr Wolkenstein nach einer Weile, „Hier gibt es gar keinen Sand!“

„Das hatte ich Dir aber doch gesagt!“

„Du hast aber auch gesagt, das ist das Wattenmeer, also ein Meer. Und am Meer gibt es Sand!“

Ich konnte seine Enttäuschung sehen und es tat mir beinahe etwas leid.

„Hier gibt es nicht einmal ein Meer, hier ist gar kein Wasser! Was ist das, was das da ist?“, fuhr er ganz plötzlich fort.

„Das ist das Watt. Das besteht aus Sand und Lehm. Das ist eigentlich der Meeresboden. Wenn das Wasser hoch steht ist hier das Meer, bei Niedrigwasser ist das Wasser sehr weit weg, weil das Meer hier nicht so tief ist. Ich hatte Dir ja mal erklärt, wie Ebbe und Flut funktionieren. Da hatte ich Dir aber nicht erklärt, dass wenn das Wasser weg, es eigentlich Niedrigwasser heißt. Ebbe heißt es, wenn es wegfließt, Flut, wenn das Wasser zurück kommt. Wenn das Wasser hoch steht, heißt es Hochwasser.“

Herr Wolkenstein sah mich an, als sei ich in diesem Augenblick Schuld, dass er hier keinen Strand zum Sandburgenbauen hat.

Austernfischer
Der frühe Vogel bekommt den Wuirm – Ein Austernfischer im Watt

Komm wir gehen hinunter

„Komm, wie gehen mal runter“, versuchte ich es vorsichtig. Herr Wolkenstein schien irgendwie noch nicht bereit, für die neue Erfahrung Wattenmeer.

„Schau, da vorn, da ist ein Austernfischer. Und dort fließt sogar noch etwas Wasser ab, da kannst Du Dein Schiff fahren lassen.“

„Das hat gar keine Räder, das kann gar nicht fahren.“

„Das sagt man aber so, ein Schiff fährt.“

„Das sagst Du jetzt nur so!“

„Nein, das ist wirklich wahr.“

Nun ging er doch langsam die Treppe hinunter.

Vorsichtig teste er die braune, feuchte Masse, die hier anstelle des Sandes den Meeresboden bedeckte, den Meeresboden, dem gerade das Meer fehlte. Zunächst ging er einige Schritte und schaute sich seine Spuren im Watt an. Danach das Watt an seinen Füßen. Er nahm etwas von der braunen Masse in die Hand, zerrieb es und schaute es sich genauer an.

„Das ist zweifarbig“, sagte er schließlich, „da ist Dunkles und Helles drin. Und die Füße bleiben matschig. Das fühlt sich komisch an.“

Schon nahm er seine Schaufel und grub ein Loch. Er musste jedoch enttäuscht feststellen, dass es schnell am Rand einstürzte.

„Und die Haufen kommen von Würmern, das habe ich auch schon herausgefunden!“, sagt er noch etwas widerwillig.

Er hielt mir seine Schaufel entgegen, auf der ein Wurm lag und sich kringelte.

„Dafür hast Du mich also her gebracht, oder? Für Würmer, die Sand essen!“

„Und, findest Du es nicht spannend?“

„Weiß noch nicht.“

Wattwurmspuren
Was der Wurm hinterlässt – Wattwurmspuren

Und weshalb ist die Küste an dieser Seite der Insel anders?

Herr Wolkenstein ging mit seinem Eimer bewaffnet wieder Richtung Watt. Dort untersuchte er die Strömung der abfließenden Bäche und prüfte die Härte der Rillen auf den Sandflächen. Er versuchte einige Kanäle zu bauen, die jedoch schnell im Strom des Wassers zusammenfielen.

„Und wenn Flut ist, kommt das Wasser bis zum Deich?“, fragte Herr Wolkenstein. Die Antwort war ihm sicher schon klar, denn er hatte genau die Kante zwischen dem trockenen und dem feuchten Sand untersucht.

„Ja, alle sechs Stunden wechseln sich ja Ebbe und Flut, also Hochwasser und Niedrigwasser ab. Ich denke das Wasser fließt noch ab, in drei bis vier Stunden ist es zurück.“

„Können wird dann nochmal hierher kommen? Ich möchte sehen, wie das Wasser zurück kommt.“

„Klar, können wir tun. Wir fahren in den Ort, essen dort etwas und anschließend kommen wir nochmal her. Wie findest Du das?“

„Gut. Und jetzt erzähl schon: wieso ist diese Seite hier ganz anders, als an unserem Strand?“

„Das liegt vor allem an der Strömung. Durch die Inseln ist das Meer hier geschützt. Die Flüsse bringen in ihrem Wasser Schlamm und Erde mit. Das ist das dunkle Watt, das sich hier abgelagert hat. Und an manchen Stellen ist auch Sand, deshalb die unterschiedlichen Farben. Und weil es vor der Strömung geschützt ist, kann sich hier alles absetzten, das Meer hat daher kaum Tiefe. Deshalb fließt bei Ebbe fast das ganze Wasser ab.

„Also ist das Dunkle nicht das von den Würmern, was hinten rauskommt?“

„Also, was die Würmer ausscheiden? Ha, nein! Aber ja, es sieht etwas so aus. Die Würmer filtern aus dem Sand und dem Schlick Nährstoffe heraus und scheiden dann die Haufen aus.  Das Dunkle ist Schlick, also feine Lehmteilchen. Jeder Wurm scheidet bis zu 25 Kilogramm am Tag aus. In einem Jahr wird der gesamte Sand im ganzen Wattenmeer einmal von einem Wurm gegessen.“

„Aha. Toll, dass Du das so toll findest! Wie groß ist denn das ganze Watt?“

„Von hier bis Dänemark, die nördliche niederländische Küste entlang, die ganze deutsche Nordseeküste bis nach Dänemark.“

„Das ist weit, oder?“

„Ja, ganz schön! 450 Kilometer an der Küste entlang, das ist weiter, als bis zu uns nach Hause.“

„Aber sag noch mal zum Wurm, wie macht der das, dass der so viel isst?“

„Er gräbt sich weiter in seine Röhre hinein und schluckt den Sand, dann kommt er regelmäßig an die Oberfläche und scheidet dort so einen Spaghetti-Haufen aus. Er kann aber grobes Material direkt ausscheiden, deshalb sammelt sich vor allem feines Material in der oberen Schicht.“

„Ieh, jetzt will ich nie mehr Spaghetti!“, sagte Herr Wolkenstein, musste bei diesem Vergleich jedoch auch lachen und fuhr fort:  „Aber, weshalb geht das Wasser, dann so weit weg, dass man es gar nicht mehr sieht?“

„Na, das Wasser steigt ja bei Flut auf eine bestimmte Höhe an, einige Meter. An unserem Strand geht es recht schnell ins tiefere Wasser, da fällt es nicht so auf, wenn die Wasseroberfläche um vier bis fünf Meter sinkt. Im Wattenmeer ist bei Hochwasser das Wasser aber nur wenige Meter tief. Also fließt es komplett ab, bis auf einige Stellen, wo durch die Strömung ein tiefer Kanal entstanden ist. Da können dann auch Schiffe zu den Inseln fahren. Die müssen manchmal im Zickzack fahren, weil die Fahrrinne sich nach der Strömung richtet.“

„Jetzt sagst Du schon wieder, dass ein Schiff fährt, wiese schwimmt es denn nicht?“

„Na, schwimmen tut es schon auch, das heißt, dass es oben auf dem Wasser bleibt. Wenn es sich dann in eine Richtung fortbewegt, vom Motor angetrieben, dann sagt man, es fährt.“

„Und das Wasser ist deshalb so flach, weil von den Flüssen so viel angeschwemmt wird und weil es von der Strömung nicht weggetrieben werden kann, weil die Insel das hier schützen?“

„Genau Und jetzt holen wir uns etwas zu essen, oder? Was möchtest Du? Pommes frites? Oder Pfannkuchen? Oder Krokette?“

„Egal, aber danach ein Eis!“

„Okay, und danach kommen wir nochmal her und schauen zu, wie das Wasser wieder zurückkommt.“

„Oder wir fahren dann zu unserem Strand, dann kann ich da noch eine Burg bauen.“

„Wie Du möchtest, erst mal in den Ort.“

„Gut.“

Weitere Links:

Willi wills wissen erklärt das Wattenmeer

Watt (Küste) – Artikel auf Wikipedia

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Danksagung:

Die Figur Herr Wolkenstein entstand in Erinnerung an den wundervollen Herrn Sonntag von der grandiosen Julia Gräfner, beide waren ein besonderer Teil von Schmalz & Marmelade, der unvergessenen Lesebühne in Schwerin.

Ebenfalls Danke für die Fotos: alle Fotos sind lizenzfrei von Pixabay.