Herr Wolkenstein fragt nach – weshalb ist das Wasser blau?

Herr Wolkenstein hatte es heute eilig, vom Strand zurück in unser Ferienhaus zu kommen. Dabei war es gerade früher Nachmittag. Er hatte eine Weile am Strand gesessen und hinaus in die Ferne geschaut. Mit einem Mal stand er auf und kam zu mir zur Decke gelaufen und sagte er wolle jetzt zurück gehen. Sofort. Nur unterwegs wolle er nochmal in den Laden mit den Postkarten und den Strandsachen.
Ich war erstaunt, denn es war schönstes Wetter und eigentlich gerade prima zum Baden. Aber ich wusste auch, wenn Herr Wolkenstein etwas mit dieser Bestimmtheit sagt, dann ist es ihm ernst. Ich brauchte also gar nicht erst zu probieren, ihn noch zum Bleiben zu bewegen. Und fragen, womit er sich gerade beschäftigte ebenfalls nicht. Das würde er mir erzählen, wenn die Zeit dafür gekommen war.
So machten wir den Schlenker durchs Dorf. Im Laden suchte er rasch etwa zwölf verschiedene Buntstifte aus und hielt sie mir hin. Es waren alles blaue, in unterschiedlichsten Farbtönen. Aha, er hatte etwas vor und das hatte mit diesen blauen Stiften zu tun. Nicht mal weiter stöbern wollte er. Sich im Dorfladen die Schaufeln, Windvögel und Modellschiffe anzusehen war an anderen Urlaubstagen seine Lieblingsbeschäftigung. Ich war gespannt, fragte aber nicht nach, bald würde ich wissen, was er im Schilde treibt.
Im Ferienhaus zog er sich direkt in sein Zimmer zurück, holte seinen Zeichenblock heraus, legte sich bäuchlings auf den Boden und begann zu malen. Nach zwei Stunden kam er mit seinem Ergebnis zu mir. Er legte bestimmt 20 Blätter nebeneinander auf den Tisch, alle waren sie zweigeteilt, ein Strich in der Mitte, oben und unten blau, in verschiedenen Tönen.

„Mein Zeichenblock ist leer, ich brauche morgen einen neuen“, begann er.
Er betrachtete eine Weile seine Werke und schien etwas enttäuscht, dass ich nicht sofort die richtigen Fragen stellte.
Oben und unten blau: das Meer und der Himmel
Schließlich begann er: „Schau mal, das ist das Meer und der Himmel. Beides ist blau. Aber das Eine ist anders blau, als das Andere.“
Er wartete eine Weile ab, ob ich etwas erwidern würde. Ich nickte und studierte die Blättersammlung, dann fuhr er fort.
„Ich glaube, Luft macht das Blau hell, weil sie leicht ist, Wasser macht das Blau dunkel, weil es schwer ist. Ich glaube das hängt zusammen, weil als wir Wolken hatten, war das Meer auch dunkler. Und das Meer ist nicht überall blau, sondern am Strand ist es braun. Ich verstehe das, aber ich verstehe es auch nicht. Warum ist das so? Warum ist das Wasser blau?“
Während er sprach, deutete er auf die die verschiedenen Bilder. Einige waren heller, andere dunkler, er probierte verschiedene Kombinationen aus, auch Farbverläufe innerhalb des Himmels und innerhalb des Wassers.
Ich betrachtete die Bilder und war wieder einmal verblüfft von Herrn Wolkenstein. Er hatte heute lange den Himmel und das Wasser beobachtet und wollte es in seinen Bildern einfangen. Er wollte es dadurch besser verstehen. Und ich denke, er war sehr weit gekommen!
Mal wieder die Physik
„Puh“, begann ich, „das ist mal wieder gar nicht so einfach!“
„Ist wieder Physik, oder?“, fragte er.
Ich nickte. Viele seiner Fragen, auf die ich in dieser Art reagierte, hatten mit Physik zu tun.
„Erzähl schon, du denkst bloß, das verstehe ich nicht! Das letzte Mal hab ich doch auch …“
„Ja, du hast Recht. Das mit dem Regenbogen, das hatte ich dir ja erklärt, weißt du noch?
„Ja, wenn Sonnenlicht durch einen Regentropfen scheint, dann teilt sich das Licht in verschiedene Farben auf.“
„Genau, das Sonnenlicht hat erst einmal alle Farben. Und ein Wassertropfen kann diese Farben aufteilen. Deshalb sieht man in verschiedenen Richtungen unterschiedliche Farben besonders hell. Das ist der Regenbogen.“
„Ja, weiß ich doch, aber der ist ja nicht nur blau, sondern auch gelb und rot und grün!“
„Das stimmt“, erwiderte ich, „wenn das Licht auf etwas trifft, dann werden bestimmte Farben herausgefiltert. Ein Blatt von einem Baum zum Beispiel behält einen Teil des Lichtes für sich. Der Teil, den es wieder abstrahlt, erscheint uns grün.“

„Kein grün, blau!“, bestand Herr Wolkenstein auf seinem Beispiel.
„Okay, okay“, versuchte ich zu beschwichtigen, „fangen wir mal mit dem Himmel an, okay?“
„Okay“, sagte Herr Wolkenstein.
„Also in der Luft ist es so, dass Licht auf die Luftteilchen trifft und dabei seinen Weg ändert. Es ändert also seine Richtung, man sagt, es wird gestreut. Du hast doch mal ein Bild vom Mond gesehen, wie war der Himmel da?“
„Da gab es doch gar keinen Himmel!“
„Wie meinst du ‚keinen Himmel‘?“
„Na, ganz dunkel, also schwarz!“, wusste Herr Wolkenstein noch ganz genau. Weltraumfotos gehörten zu seinem Spezialgebiet, das merkte er sich gut.
„Richtig. Und weißt du auch weshalb?“
„Hm, weil der Mond keine Luft hat?“
„Genau. Was siehst Du also eigentlich, wenn du den Himmel siehst?“
Ist Luft eigentlich durchsichtig?
„Luft? Das ist doch Quatsch! Luft ist doch durchsichtig! Hallo, ich kann dich nämlich sehen und du bist nicht blau!“
„Ja, Luft ist durchsichtig aber eben nicht ganz! Wenn Licht einen sehr langen Weg durch Luft hindurch scheint, dann kann die Luft die Richtung von den Lichtstrahlen ändern.“
„Echt? Das kann man sich gar nicht vorstellen. Du hast mal gesagt, Licht ist so schnell, dass es keine Sekunde von hier nach da braucht. Das kann man doch nicht umleiten!“
„Ja, es ist sehr schnell, das stimmt, trotzdem kann es seine Richtung ändern, wenn es nur eine lange Strecke durch die Atmosphäre zurücklegt.“
„Okay, das glaube ich dir also, aber weshalb das blaue Licht und nicht das gelbe Licht?“
„Das hat damit zu tun, dass Licht eigentlich eine ganz kleine Welle ist. Und unterschiedliche Farben sind eigentlich unterschiedlich große Wellen.“
„Also so, wie die Wellen im Wasser? Wie klein sind die Wellen denn?“
„In ein Haar von dir passen ungefähr 100 Wellen. Also in den Durchmesser des Haares, in die Dicke.“
„Echt? So klein? Das ist lustig!“
Herr Wolkenstein griff in meine Haare, erwischte eins und drehte es zwischen seinen Fingern.
„Hey, lass das, das zippt!“, sagt ich. „Ja, das ist schon lustig. Du hast mir doch gestern gesagt, dass die Wellen vom Meer sich gar nicht daran stören, ob du dort badest. Die fließen einfach weiter, so als wenn gar nichts wäre, weißt Du noch?“
„Genau, die werfen mich nur um!“
„Deshalb wollte ich nicht, dass du im Meer badest, als es so große Wellen gab, genau! Aber du hast auch gesehen, dass die hinter dir einfach weiter fließen.“
„Genau, aber das hat doch jetzt nichts mit dem blauen Wasser zu tun, oder?“

Große Wellen, kleine Wellen
„Doch, doch, weil das Licht ja eine kleine Welle ist. Aber der Reihe nach! Weißt du noch, was passiert ist, als du den Stein neben die Ente bei uns in den Teich geworfen hast?“
„Da hast Du geschimpft!“, sagte Herr Wolkenstein und schaute etwas betroffen drein. Oder war es doch eher sein spitzbübischer Blick?
„Zu Recht!“, sagte ich, „Denn Du hättest die arme Ente beinahe getroffen!“
„Das wollte ich ja eben nicht. Ich wollte sehen, wie die Ente auf der Welle von dem Stein schaukelt! Aber das hat sie nicht, denn die Welle ist einfach verschwunden.“
„Genau, die kleine Welle wurde von der Ente einfach gestoppt. Das meinte ich. Und schau mal, was hier passiert …“
Ein Löffelstiel kann eine Welle stören
Ich holte eine Spülschüssel, füllte sie mit Wasser und nahm ein paar Kieselsteine von der Terrasse. Ich hielt einen Holzlöffel in das Wasser und warf einen Steine hinein.
„Hm, der Löffel macht, dass die Welle von dem Stein etwas krumm wird. Er stört die Welle.“
„Genau! Die große Welle im Meer stört sich nicht an dir, wenn du badest. Die kleine Welle verschwindet, wenn sie gegen die Ente platscht. Aber der Löffelstiel kann eine kleine Welle verändern. Er lenkt sie ab!“
„Verstanden. Es kommt also auf die Größe der Welle an. Jetzt aber das Blau!“
„Okay. Also erst nochmal der Regenbogen …“
„Nein, Blau!“
„Also das Blau vom Regenbogen erscheint woanders, als das Gelb vom Regenbogen … “
„Jaaaaaa, ver-stand-den! Deshalb ist es ja ein Bo-gen!“
„… und das liegt daran, dass das gelbe Licht eine größere Welle ist, als das blaue Licht …“
„Aber …“
„UND das ist beim Himmel jetzt entscheidend!“
“ … wieso?“
„Schau mal auf einen Punkt am Himmel, da oben!“
„Okay, blau, sag ich doch.“
„Genau. Und denk dir, dort ist jetzt ein Luftteilchen. Die Sonne trifft mit einem Lichtstrahl das Luftteilchen. Und das Luftteilchen ist sehr, sehr klein. Was tut das Luftteilchen dann mit dem Licht?“
„Wenn es klein ist, kann es kleine Wellen ablenken, aber große Wellen nicht.“
„Jaaa, klasse! Und welche Farbe glaubst Du hat die kleine Lichtwelle?“
„Blau!“
„Und wohin lenkt das Luftteilchen das blaue Licht?“
„Zu mir?“
„So ist es! Und was passiert mit dem gelben Licht?“
„Das fliegt einfach weiter, weil das Luftteilchen zu klein ist, es abzulenken.“
Herr Wolkenstein schwieg für eine ganze Weile. Er brauchte wohl einiges an Fantasie, um sich die kleinen Luftteilchen und die kleinen Lichtwellen vorzustellen, die 100 mal kleiner sind, als ein Haar dick. Aber ich sah, wie sich wohl ein Bild in seiner Vorstellung ergab. Doch wurde es bald schon durch die nächste Frage unterbrochen.

Himmel okay, aber warum auch das Wasser?
„Also Himmel verstehe ich, aber wiese auch das Wasser?“
Das hatte ich befürchtet. Denn Herr Wolkenstein gibt sich nicht auf einer Zwischenetappe zufrieden, wenn er das große Ziel einmal vor Augen hatte.
„Das funktioniert eigentlich ganz genauso, wie beim Himmel“, versuchte ich zunächst so überzeugend ich konnte.
„Aber ich habe Dir doch die Bilder gezeigt. Und ich habe es heute auch den ganzen Tag so gesehen. Der Himmel ist heller blau als das Meer, das ist anders!“
„Ja, das stimmt. Denn das Meer verschluckt auch viel Licht. Aber auch hier kannst du dir einen Punkt im Wasser vorstellen und das Licht, wie es sich von der Sonne zu dem Punkt und dann zu dir bewegt.“
„Okay.“
„Auch hier wird das Licht mit der kleineren Wellenlänge besser zu dir abgelenkt, daher kommt mehr blaues Licht an, als gelbes oder rotes und es erscheint dir blau.“
„Und warum ist das Wasser manchmal unterschiedlich blau? Manchmal sogar grün oder schwarz?“
„Das liegt auch daran, wie tief das Wasser ist. Wenn das Wasser niedrig ist und der Boden sandig, dann ist es heller, dann scheint aber auch der Boden noch mit. Wenn Pflanzen im Wasser sind, ist es trübe. Und am Strand wirbeln die Wellen ganz viel Sand auf. Dann sieht es eher braun aus. Aber ganz hinten, da erscheint es blau. Vor allem, wenn die Sonne scheint. Sonst ist oft nicht genügend Licht vorhanden, dann ist es ganz dunkel.“
Herr Wolkenstein schien nun müde zu sein. Er nickte nur, griff seine Zeichenblätter und ging in sein Zimmer zurück.
„Morgen möchte ich wieder baden“, sagt er noch auf dem Weg.
„Na klar“, sagt ich, „aber noch nicht einschlafen, gleich gibt’s Abendbrot. Ich habe beim Bäcker die leckeren Rosinenbrötchen gekauft, die können wir toasten und Scheibenkäse drauflegen …
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Danksagung:
Die Figur Herr Wolkenstein entstand in Erinnerung an den wundervollen Herrn Sonntag von der grandiosen Julia Gräfner, beide waren ein besonderer Teil von Schmalz & Marmelade, der unvergessenen Lesebühne in Schwerin.
Hallo Herr Oliver Hübner, auf der Suche nach einer Erklärung, weshalb Wasser blau erscheint, bin ich auf die Erklärung des Herrn Wolkensteins gestoßen. Einerseits amüsant und andererseits beeindruckend verständlich und irgendwie kurzweilig empfunden. Herzlichen Dank! Die Erklärung für den Regenbogen habe ich nun auf den 14 Seiten zurück nicht gefunden, dafür noch andere interessante Fragen, die ich mir gerne in den nächsten Tagen durchlesen mag. Vielleicht hat Herr Wolkenstein Lust sich in einem Heft oder Buch für Kinder niederzulassen oder einfach alleine mitsamt seinen tollen Fragen und Ihren wunderbaren Erklärungen auf einer Internetseite nur für Herrn Wolkenstein zu erscheinen 🙂 Nochmals vielen Dank!
Vielen Dank, Petra, für diese schöne Rückmeldung. Es stimmt, den Regenbogen habe ich tatsächlich noch nicht in einem eigenen Text mit Herrn Wolkenstein erklärt. Den brauchte ich nur dramaturgisch für das Blau. Gute Idee, der kommt bestimmt in diesem Jahr dran.
Ich überlege tatsächlich, ob sich aus den Herrn Wolkenstein-Texten ein kleines Buch zusammenstellen lässt, mal sehen, wohin die Reise geht. Prima, dass es Dir gefällt!