Herr Wolkenstein fragt nach – woher kommen Wellen?

Woher kommen die Wellen?
Es war ein sonniger Nachmittag. Von der See her wehte ein steter Wind. Rauschend brachen die Wellen und spülten einen weißen Schaum an den Strand.
Herr Wolkenstein saß lange auf einer Sandbank zum Meer hingewandt und beobachtete das Schauspiel.
„Wollen wir Ball spielen?“, fragte ich ihn und setzte mich dazu.
Herr Wolkenstein schaute kurz auf und schüttelte den Kopf.
„Ist dir nicht kalt?“, fragte ich.
Herr Wolkenstein schaute nochmals auf und schüttelte erneut den Kopf.
„Woher kommen die Wellen?“, wollte er wissen.
„Sie fangen ein Stück da draußen an“, erklärte er, „und sie kommen bis fast zum Strand, wo sie umkippen. Und sie laufen gerade. Wenn ich einen Stein habe und ins Wasser werfe, macht der auch Wellen, aber runde. Die verschwinden dann bald. Guck!“
Er drehte sich zum Priel und warf einen kleinen Stein in das Wasser, um es zu demonstrieren.
„Das ist komisch, oder?“, sagte er schließlich.
„Na ja, etwas schon. Aber eigentlich funktioniert beides gleich“, erklärte ich.
Ein Stein macht runde Wellen, das Meer macht gerade Wellen
Herr Wolkenstein schaute eine Weile hinaus aufs Meer, dann in den kleinen Priel zurück.
„Schau mal. Was passiert, wenn du den Stein ins Wasser wirfst?“, fragte ich ihn.
„Er geht unter!“
„Sehr gut. Was noch?“
„Es spritzt. Und dann gibt es eine Welle. Im Kreis, weg vom Stein.“
„Okay. Wie genau spritzt es?“
„Hm. Mal sehen …“
Herr Wolkenstein nahm eine Hand voll Steine und Muscheln auf, die um ihn herum lagen und warf sie nacheinander in den Priel. Mal vorsichtig, mal mit Wucht, gerade und schief.
„Also, erst spritzt es. Der Stein zieht Luft mit unter Wasser, dann schwappt es wieder zurück.“
„Genau. Der Stein zieht Luft hinter sich her. Das Wasser muss irgendwo hin, also spritz es nach oben und zur Seite weg. Das Wasser, das zur Seite spritzt, fällt wieder nach unten und stößt dabei das Wasser dort zur Seite, so entsteht die erste Welle.“
„Hm. Nochmal langsam!“
„Okay. Also erst die Luft unter Wasser. Das Wasser zur Seite und hoch, weil es ja Platz machen muss für die Luft.“
„Gut.“
„Dann das Wasser von oben wieder runter, das macht eine Welle zur Seite.“
„Fließt das Wasser denn zur Seite weg? Das geht doch eigentlich gar nicht, weil da ist ja schon Wasser und wenn die Welle angekommen ist, ist das Wasser da genauso hoch, wie vorher!“
„Das stimmt. Bei einer Welle fließt das Wasser eigentlich auch gar nicht. Es bewegt sich nur im Kreis, hin und her. Am Stand siehst du das besser. Die Welle kommt an und bringt Wasser mit, das fließt aber wieder zurück. Dann kommt die nächste Welle und die bewegt das gleiche Wasser wieder zum Strand, wie die Welle davor.“
„Das ist aber komisch. Denn es sieht doch so aus, als ob da Wasser mit der Welle angespült wird …“
„Das seht so aus. Aber das hast du ja an der Kreiswelle schon gesehen. Vorher ist Wasser da und wenn die Welle weg ist, ist immer noch Wasser da. Das ist nicht weg. Sonst würde ja ganz viel Wasser dorthin gespült werden, wo die Wellen hin fließen. Das Wasser fließt eigentlich oben hin und unten wieder zurück. Im Kreis. Es stößt aber das benachbarte Wasser an, das sich dann zum Wellenberg auftürmt.“
„Verstehe“, sagte Herr Wolkenstein, immer noch nachdenklich. Er schaute jetzt wieder hinaus aufs Meer.
„Ist dir wirklich nicht kalt? Wollen wir zurück zur Decke? Oder etwas trinken?“, fragte ich. Doch Herr Wolkenstein ließ sich nicht ablenken.

Kann der Wind das Wasser hochpusten?
„Aber wie entsteht denn die Welle überhaupt, die an den Strand kommt. Da wirft ja niemand was rein.“
„Rate mal!“, versuchte ich ihn etwas herauszufordern.
Nach so etwas wie einem Augenrollen erwiderte er:
„Ich weiß schon, dass es der Wind ist, aber ich weiß nicht wieso!“
„Genau der Wind. Aber es ist tatsächlich schwierig.“
„Eben.“
Ich schaute ihn nochmal herausfordernd an, weniger um auf eine Antwort abzuwarten, als um etwas Zeit für die Antwort zu gewinnen.
„Also: Kann der Wind das Wasser nun hochpusten, oder nicht?“
„Irgendwie schon. Es reicht, wenn zum Beispiel ein ganz kleiner Unterschied in der Windgeschwindigkeit ist. Dann drückt der Wind das Wasser da, wo er stärker ist, ganz leicht nach unten. Und irgendwo ist er immer etwas stärker. Der Wind weht nie ganz gleichmäßig. Wenn erst einmal eine kleine Senke entstanden ist, kann der Wind dort das Wasser besser wegdrücken. Hinter dem Berg kann der Wind das Wasser weniger gut wegdrücken. Die Senke wird also verstärkt, es entsteht ein Wellental und ein Wellenberg.“
Herr Wolkenstein überlegte. Er schaute eine ganze Weile hinaus aufs Meer und die herankommenden Wellen.
„Okay, der Wind schiebt die Wellen vor sich her. Und eine kleine Welle wird vom Wind größer, das versteh ich ich. Warum sieht es aber so aus, als ob die Welle erst kurz vorm Strand richtig anfängt?“
Wo fängt die Welle an?
„Die Welle kommt von weit draußen. Sie braucht sehr lange, zum Wachsen. Sonst könnte es ja auch bei uns am See große Wellen geben, wenn es nur windig genug ist.“
„Aber vom Strand aus sieht man das gar nicht.“
„Auf dem Meer schon. Erinnerst du dich an die Überfahrt mit der Fähre, als es mal ganz windig war? Das hat schon geschaukelt, oder?“
Herr Wolkenstein nickte. Sein Gesicht verzog sich angesichts der unangenehmen Erinnerung.
„Okay“, fuhr ich fort, „vom Strand aus sind die Wellen tatsächlich nicht so gut zu sehen, erst wenn sie nahe dem Ufer sind. Das liegt daran, dass sie sich dann nochmal auftürmen. Ich hatte ja gesagt, dass das Wasser sich eigentlich wie im Kreis bewegt. Also oberhalb und auch unterhalb der Wasseroberfläche. Da wo das Wasser aber nicht so tief ist, ist trotzdem die Kraft noch da, das Wasser zu heben, gleichzeitig wird es vom Meeresgrund angehoben. Also steigt der Wellenberg höher hinauf, die Wellen erscheinen höher. Und das zweite ist ja, dass sie in Ufernähe brechen. Da der Meeresboden die Welle unterhalb abbremst, oberhalb aber nicht, brechen die Wellen und stürzen vornüber. Klar?“
„Ja und auch nein“, sagte ein sichtlich unzufriedener aber nun auch müder Herr Wolkenstein.
„Das ist auch gar nicht so einfach, wie es scheint“, versuchte ich etwas Trost zu spenden. „Wollen wir erstmal ins Warme? Mir wird kalt. Morgen gibt es bestimmt wieder Wellen, dann können wir sehen, ob sie genauso hoch sind, wie heute.“
Herr Wolkenstein nickte und ließ sich endlich in das mitgebrachte Handtuch einwickeln.
Gibt es auch Wellen aus Sand?
Wir waren auf dem Rückweg vom Strand gerade auf der ersten Düne angekommen, da bemerkte Herr Wolkenstein:
„Du, die Dünen sind eigentlich auch Wellen, nur eingefroren!“
„Ja, das stimmt!“, entfuhr es mir begeistert. „Das ist ganz genau so! Also der Sand, der wird vom Wind verweht und wenn ein Korn fällt, dann ist es dahinter windgeschützt und das nächste Korn …“
„Du“, sagte Herr Wolkenstein, „sei nicht traurig, aber erklär es mir lieber morgen. Für heute hab ich genug.“
So gingen wir schweigend zum Haus zurück. Die Abendsonne wärmte uns im Windschatten der Dünen wieder kräftig auf.
Morgen wäre ein neuer Tag am Meer mit vielen weiteren Fragen. Aber nicht mehr heute.
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Diese Geschichte ist mit vier weiteren Dialogen mit Herrn Wolkenstein Teil des ersten Buches von Blog speciaal:
„Herr Wolkenstein fragt nach – Naturphänomene an der Küste“, Verlag Blogwerk, 2020
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Danksagung:
Die Figur Herr Wolkenstein entstand in Erinnerung an den wundervollen Herrn Sonntag von der grandiosen Julia Gräfner, beide waren ein besonderer Teil von Schmalz & Marmelade, der unvergessenen Lesebühne in Schwerin.
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